Ein Tag im Leben

Viktor Röthlin: 2. August 2010
Der Tag nach EM-Gold

Kurz nach Mitternacht kehrte ich mit meiner Frau und meinem Physio Daniel Troxler ins Athletenhotel zurück. Zuvor hatten wir in einem Restaurant im Zentrum Barcelonas ein wenig gefeiert. In der Lobby drückte mir Dani das Plastikkärtchen für sein Zimmer in die Hand und sagte: «Schau mal in der Minibar nach.» Zuerst habe ich mich ein wenig gewundert, aber dort fand ich dann einen Château d’Yquem – mein Lieblingswein! Der Tag nach meinem EM-Gold hat also um Mitternacht mit einer Flasche Süsswein begonnen. Und klar: Bei meinem Körpergewicht und nach so einer Anstrengung muss man nicht viel investieren, damit man sich relativ lustig fühlt.

An Schlaf ist nach einem Rennen meist nicht zu denken. Je länger die Nacht dauert, desto grösser werden die Schmerzen. Deine Muskulatur macht zu, irgendwann bist du so rigid, dass du fast nicht mehr aus dem Bett kommst. In Barcelona kam hinzu, dass ich viel zu aufgewühlt war – immer wieder habe ich mit einem riesigen Smile an die Decke gestarrt.

Der Gang ins Bad am Morgen war nicht schön. Gesicht waschen, Socken anziehen, sich auf eine Toilettenschüssel setzen… Alles tut weh, selbst das Zähneputzen, denn ein Marathon verursacht auch Muskelkater in den Armen. Du hoffst einfach, dass Du in den nächsten 48 Stunden keiner Treppe begegnest. Das Hinabsteigen ist wegen der exzentrischen Bewegungen überhaupt nicht nett.

Der Flug zurück in die Schweiz war schon am Vormittag, sodass wir früh mit dem Büssli vom Hotel losmussten. Danach folgte die typische Flughafen-Warterei, du bist ja eigentlich immer zu früh. Nach dem Check-in habe ich mich in ein Café gehockt. Dort sass auch Christophe Lemaitre, der französische Sprinter. Sein Stern ging in jenem Jahr gerade auf. Er wurde zum ersten weissen Europäer, der die 100 Meter unter 10 Sekunden lief, und in Barcelona gewann er das Triple – Gold über 100 Meter, 200 Meter und mit der Staffel. Obwohl er wie ich Asics-Athlet ist, hatten wir bis dahin noch nie miteinander zu tun, und so habe ich mich zu ihm gesetzt. Das war eine spannende Begegnung. Einerseits wegen dem Kontrast zwischen uns, Lemaitre ist ein sehr introvertierter Typ. Andererseits gab es durchaus Anknüpfungspunkte: 100 Meter und Marathon sind jene Disziplinen, die in der Leichtathletik etwas herausstechen; die Goldmedaillen finden am meisten Beachtung. Wir haben uns auch über Japan unterhalten, schliesslich wurden unsere Füsse im selben Entwicklungszentrum in Kobe vermessen.

Der Flug war sehr angenehm. Die Leute von der Swiss haben immer Freude, wenn sie uns Athleten befördern dürfen. Man wird bestens informiert, und ich durfte für die Landung in Zürich sogar ins Cockpit. Ja, das war eine Extrawurst, der Grossteil des Schweizer Teams befand sich ja ebenfalls auf diesem Flug. Aber ich wurde halt Europameister, zudem war der Captain laufinteressiert und hat sich die Chance auf einen Smalltalk nicht nehmen lassen.

Anstehen für die Passkontrolle, Koffer vom Gepäckband holen: In aller Regel gibt es null Sonderbehandlung für uns Sportler, und das ist auch okay so. Klar, mit ein paar Schmerzmitteln oder Entzündungshemmern wäre die Rückreise erträglicher gewesen. Trotzdem habe ich nach einem Rennen nie etwas genommen. Ich fand, die Nachwehen gehören dazu. Wenn du damit anfängst, dann schluckst du irgendwann beim kleinsten Wehwehchen etwas.

Um die Mittagszeit bin ich in durch die Schiebetür in die Ankunftshalle getreten. Später habe ich gelesen, dass dort etwa 200 Leute auf mich gewartet hätten. Das hat immer eine gewisse Ambivalenz: Einerseits möchtest du deine Ruhe und so schnell wie möglich heim. Andererseits ist es eine riesige Wertschätzung, wenn deine Fans zum Flughafen fahren, um dich mit Treicheln und Fahnen zu empfangen. Was mich extrem gefreut hat: Auch mein Vater ist gekommen. Das hat er selten gemacht – er ist ein typischer Obwaldner, für die ist nur schon Luzern quasi Ausland.

Danach begann der zweite Medienmarathon, den ersten gab es nach dem Rennen. Mein Management hatte im Radisson Blue einen kleinen Raum reserviert. Ich habe alles nochmals erzählt, was ich schon am Vortag erzählt hatte. Am Schluss, das weiss ich noch genau, war das Schweizer Fernsehen dran. Der Journalist wollte und wollte nicht aufhören zu fragen. Ich denke, ich bin ein geduldiger Mensch, versuche immer alles so zu erzählen, als würde ich es zum ersten Mal erzählen. Aber da hat es mir ausgehängt – die Müdigkeit, die durchzechte Nacht –, es wurde too much. Irgendwann habe ich das Interview einfach beendet.

Danach ging’s endlich zum Parkhaus. Meine Frau war nur fürs Wochenende nach Barcelona gekommen und hatte das Auto am Flughafen parkiert. Wir wohnten damals in Sempach, und als wir kurz vor dem Eindunkeln daheim ankamen, gab es einen Schockmoment: Von unserem Balkon baumelte ein Transparent herab. Natürlich gehst du grundsätzlich von etwas Positivem aus. Gleichzeitig bist du verwirrt, fragst dich: Was macht dieses Transparent dort, war jemand in deiner Wohnung? Die Nachbarn hatten «Wir gratulieren» auf ein Leintuch geschrieben und eine Leiter geholt, um es an unserem Balkon zu befestigen.

Regeneration? Klar, wäre total wichtig, aber ich habe sowieso nach jedem Marathon drei Wochen Pause gemacht. Natürlich könnte man den Erholungsprozess beschleunigen, indem man in den ersten 48 Stunden gezielt isst und mit Regenerationsshakes arbeitet. Ich hatte vor Barcelona wirklich alles gemacht, um meine beste Leistung abrufen zu können, danach war es mir völlig egal. In den ersten Tagen nach dem EM-Gold bin ich nicht mal in die Massage. Dafür habe ich mich von Junkfood und allem Wüsten ernährt. Schon das Frühstück vor der Rückreise in die Schweiz bestand aus einem McDonald’s-Menü.

Bevor ich todmüde ins Bett fiel, habe ich in den Sportteilen der Zeitungen geblättert – zu jener Zeit hat man ja noch Zeitungen gekauft – und die SMS-Gratulationen durchgesehen, etwa 150 Nachrichten. Was schon sehr eindrücklich war: Das Rennen fand am 1. August statt, einem Feiertag, sodass die Leute Zeit zum Schauen hatten. Ich habe einige coole Sachen im Sport erlebt. Aber nichts hat so hohe Wellen geschlagen wie dieser Sieg am Nationalfeiertag. Ein paar Tage lang hatte ich das Gefühl, jetzt kennt dich wirklich jeder.

Protokoll: Bruno Ziauddin