Plan B

Als «Bruno» ein hipper Vorname war: Mindestens drei Buben auf dieser Aufnahme von 1975 heissen so. Unter anderem der Autor, obere Reihe, Dritter von links.

Eine Biographie in zwölf WM-Endrunden

Bruno Ziauddin

1974 (Deutschland) – Obwohl wir keinen Fernseher haben und ich noch keine Zeitung lese, weiss ich es ein halbes Jahr im Voraus: Die Schweiz ist nicht dabei. Das geht aus einem Taschenbuch hervor, das ich zum Geburtstag bekommen habe und sämtliche unter Beteiligung von Schweizer Mannschaften zustande gekommenen Fussballresultate des Jahres 1973 aufführt. Zum Beispiel: CS Chênois – FC Luzern 2:1. FC Sion – Lazio Rom 3:1 (!). Und eben auch die ehrenvollen Niederlagen der Rotjacken (die Autoren des Werks legten Wert auf eine lebendige und humorvolle Sprache) in der WM-Qualifikation: 0:1 gegen die Türkei und 0:2 gegen Italien, das in seiner Catenaccio-Blüte steht und die Qualigruppe mit null Gegentoren gewinnt.

1978 (Argentinien) – Aus mir ist ein Zeitungsleser und Fernsehfussballschauer geworden. Darum weiss ich: Die Schweiz ist nicht dabei. Ich gebe mich dem höchsten der Gefühle hin, das den Frustrierten dieser Erde zugänglich ist: Schadenfreude. Deutschland, Deutschland, ha-ha-ha.

1982 (Spanien) – Was zählt, ist der eigene Fussball. Ich bin Libero bei Young Fellows Zürich; es gilt die im Jahr davor im Schweizermeisterschafsfinale der C-Junioren erlittene Niederlage gegen La-Chaux-de-Fonds zu verdauen. Aber natürlich weiss ich: Die Schweiz ist nicht dabei. Um sich endlich wieder für ein Turnier zu qualifizieren, wird die Nati warten müssen, bis ich die fussballerische Volljährigkeit erreicht habe. Meine Mutter interessiert sich überhaupt nicht für Sport. Trotzdem schaut sie mit mir das WM-Halbfinale Deutschland – Frankreich, sie ist halb Französin. Nach dem entscheidenden Elfmeter der Deutschen bricht sie in Tränen aus.

1986 (Mexiko) – Zu wenig Talent, zu dünne Beine: Meine Volljährigkeit hat nicht den erhofften Effekt auf die Leistungen der Nationalmannschaft. Die Schweiz ist nicht dabei. Dabei hatte es so gut begonnen. Zuerst zwei Siege, dann ein Unentschieden gegen die Sowjetunion. Ich war im Stadion (Wankdorf, 51’000 Zuschauer), Andy Egli erzielte in der 91. Minute den Ausgleich. Zwanzig Jahre später habe ich ihn mal getroffen, sympathischer Typ.

1990 (Italien) – Geschwister, Eltern, lebenslange Freunde – mal steht man ihnen näher, mal ferner. So geht es mir auch mit Fussball. Keine nennenswerten Erinnerungen an diese WM, kaum ein Spiel gekuckt. Eines aber weiss ich: Die Schweiz ist nicht dabei.

1994 (USA) – Sollten diese Zeilen einem nicht an Sport interessierten Menschen bis anhin ein wenig Freude bereitet haben, kommt jetzt der Moment, wo ich alles kaputt mache: Ich musste fast dreissig werden, um erstmals in meinem Leben eine Schweizer Mannschaft an einer Endrunde zu sehen. Ja: Das war so aufwühlend wie das erste Mal Sex. Die Mannschaft von damals, inklusive Trainer, zählt seither zu meinem engeren emotionalen Bekanntenkreis. Noch heute fühle ich mich Hodgson, Hottiger, Sforza, Bickel und Chapuisat so verbunden wie den Mitbewohnern meiner ersten WG.

1998 (Frankreich) – Die Schweiz ist nicht dabei. Immerhin: Deutschland, Deutschland, ha-ha-ha.

2002 (Japan & Südkorea) – Die Schweiz ist nicht dabei. Da unverdient und unglücklich, macht nicht mal die Finalniederlage der Deutschen Spass.

2006 (Deutschland) – Nach dem torreichsten WM-Spiel aller bisherigen Zeiten (1954; 5:7 gegen Österreich) ist die Schweiz nun auch am schlechtesten WM-Spiel aller bisherigen und bestimmt auch künftigen Zeiten beteiligt (0:0 gegen die Ukraine). Aber hey: Wir sind Achtelfinal! Und davor: eine unvergleichlich aufregende Qualifikation inklusive Prügelparty in Istanbul.

2010 (Südafrika) – Doofes Turnier, doofe Schweiz. Gelson Fernandes stolpert uns zum glücklichsten Sieg aller wie auch immer gearteten Zeiten (1:0 gegen Spanien).

2014 (Brasilien) – Kein doofes Turnier, keine doofe Schweiz. Achtelfinal, letzte Minute der Verlängerung: What a Messi im argentinischen Strafraum! Trotz herzzerreissender Niederlage ist das eine der Top-7-Leistungen in der Geschichte der Nationalmannschaft.

Die anderen sechs in chronologischer Reihenfolge: WM 38: 4:2 in Paris gegen das «Deutsche Reich». WM 50: 2:2 gegen Brasilien in Brasilien. WM 54: 4:1 gegen Italien. 1993, WM-Qualifikation: 1:0 gegen Italien. WM 94: 4:1 gegen Rumänien. 1994, EM-Qualifikation: 4:2 gegen den WM-Dritten Schweden. 2005, WM-Barrage: 2:0 gegen die Türkei.

2018 (Russland) – Hoffentlich schafft es die Nati, die auf Hurling und Netzball spezialisierten Nordiren in der Barrage zu besiegen. Zum Beispiel 0:0 und 1:0 n.V. Denn das ist endlich wieder mal eine Mannschaft mit dem Potenzial, WG-Gefühle auszulösen. Shaqiri, wärst du so nett, dein Geschirr selbst wegzuräumen? – Lichtsteiner, wir würden den Film gerne in Ruhe schauen. – Miete zahlen, Xhaka! – Sie hat sich in Breel verliebt. – Rodriguez, sag doch auch mal was! – Sei nicht gleich eingeschnappt, Vladimir, sie hat es nicht bös gemeint. – Zimmer frei: Zuber oder Zakaria? – Yann, wo hast Du den Föhn hingelegt

Die Bilanz nach 44 Jahren: Besser so als Österreicher.

Hier schreiben abwechselnd Bruno Ziauddin, Benno Maggi, Bänz Friedli und Benjamin Steffen.