Plan B
An der Wand hängen mächtige Souvenirs an ein ungefähres Einst.
Heute mit: Bänz Friedli
Erinnerung an den Sommerschnee
«Jetzt muass er denn öppa dr Yolo Flip uspacka!», mahnte Gian Simmen aus dem Off, wissend, dass Iouri Podladtchikov ohne den schwierigsten aller Sprünge keine Chance auf Olympiagold haben würde. Simmen, mehr Mitfieberer als TV-Kommentator, hatte sechzehn Jahre zuvor in Nagano selber Gold in der Halfpipe gewonnen. «Jetzt muass er denn öppa dr Yolo Flip uspacka!» Es klang mehr nach Wunsch denn nach Aufforderung, eher ängstlich als zuversichtlich. Podladtchikovs finaler Run an den Olympischen Spielen in Sotschi neigte sich dem Ende zu. Jetzt oder nie! Würde er ihn nicht gleich auspacken, den Yolo Flip, dann …
Mattscheibe. Im entscheidenden Moment versagte der Fernseher in unserer Bündner Ferienwohnung den Dienst. Jahre, vielleicht Jahrzehnte hatte ich kein Sportereignis mehr so herbeigesehnt, nicht mit solcher Hingabe verfolgt. Ewig hatte ich nicht mehr so mitgefühlt. Und jetzt: schwarz. Bildstörung. Zum Glück stand der Laptop auf dem Esstisch. Hurtig den Live-Stream angeklickt, vielleicht würde es reichen. Podladtchikov nimmt Anlauf zum letzten Sprung, schnellt der Kante entgegen. Und dann …
Es ist wirklich wahr, was ich Ihnen erzähle: Dann gab mein sauteures Powerbook für immer den Geist auf. Aus, Ende. Blackout. Iouri Podladtchikov muss in Sotschi längst am Jubeln gewesen sein, sich mit dem unterlegenen Freund und Erzkonkurrenten Shaun White in den Armen gelegen haben – und bei mir waren nacheinander zwei Geräte ausgestiegen, die mich am Triumph hätten teilhaben lassen sollen.
Was ich meinen Enkeln nicht alles erzählen werde!
Vom «Jahrhundertspiel» im Fussball, ich war ein Knirps von fünf Jahren, und im Aztekenstadion von Mexiko-Stadt rangen die Italiener in der Verlängerung des WM-Halbfinals Deutschland nieder: Burgnich, Facchetti, Mazzola, Rivera, Boninsegna. Noch immer kann ich die Namen der legendären Squadra von 1970 nennen. Obgleich ich den Match nicht verfolgte, wir hatten keinen Fernseher. Doch ich sehe es vor mir, wie Gianni Rivera in der 111. Minute das entscheidende 4:3 erzielte.
Von «Maite» Nadigs Fahrt zu Abfahrtsgold in Sapporo werde ich berichten. Eine Skisensation wars, 1972, ich ging in die erste Klasse – mir ist, als ob es gestern gewesen wäre.
1978 sah ich mein erstes Endspiel, Argentinien gegen Holland. Gut, «sehen» ist übertrieben: Knisterndes Schwarzweiss am SABA-Fernseher, den meine Eltern von den Aernis geschenkt bekommen hatten. Die hatten sich neu einen Farbfernseher geleistet! Auf unserem Schirm war das Geschehen in Buenos Aires nicht wirklich auszumachen. Es schneite.
Am SABA-Fernseher schneite es auch sommers.
Den Sieg «meiner» Azzurri an der Endrunde 1982, den endlich sah ich live und in Farbe. Und danach nie wieder, wenngleich jede einzelne Sequenz heute im Web abrufbar ist. Ich will sie nicht mehr sehen, Tardellis Torjubel kann in Wahrheit gar nicht so schön gewesen sein wie in meiner Erinnerung. Denn im Erzählen erst und im wieder und wieder Erzählen werden die grossen Ereignisse ganz gross. Wie oft habe ich den Kindern erzählt, wie Beat Breu 1982 die Bergankunft auf Alpe d’Huez gewann, weshalb ich dann zu spät zur Klavierstunde gekommen sei?
Und wie die Young Boys im Halbfinal des Meistercups 1959 Stade Reims schlugen! Zwar war ich noch nicht auf der Welt, aber ich weiss es. Es wurde mir erzählt von einem, der dabei war, Bernard. Er hat es mir oft und detailliert erzählt. Wenngleich er damals als Knirps im überfüllten Wankdorf vermutlich gar nichts mitbekam, mitten unter Stumpen rauchenden Männern, die ihm die Sicht versperrten. Egal, in Bernards Erzählung wird er lebendig, der grösste Sieg der Vereinsgeschichte.
Wir müssen aufpassen, in Zeiten von Youtube, dass uns das Erzählen nicht abhandenkommt. Womöglich werde ich den Enkelinnen und Enkeln auch erzählen, dass ich selber einst bei strömendem Regen im Pflotsch auf Platz 11 der Fussballanlage Hardhof den entscheidenden Elfmeter versenkte zum Sieg meines Teams in der Zürcher Alternativliga. Ich war nur zum Zug gekommen, weil die zehn anderen schon geschossen hatten und die Partie immer noch unentschieden stand. Keiner hätte mir, dem hüftsteifen Aussenverteidiger, das Vertrauen geschenkt, einen Penalty zu treten. Aber nun musste ich ihn treten. Und traf. Dass der gegnerische Torwart miserabel reagiert hatte und mein Schuss schwach und nicht besonders platziert gewesen war: Ich werde es verschweigen.
Aber von Iouri werde ich schwärmen, Iouri Podladtchikov. «Wisst ihr», werde ich den Enkelinnen und Enkeln erzählen, die Mira oder Nicolò oder Anna oder Birk heissen werden, «wisst ihr, das war mehr als Sport, was der gemacht hat. Es war Kunst. Wie er Linien in den Schnee zeichnete und Figuren in die Luft malte, ureigene Linien und Figuren, wie er gleichsam Bewegungen erzauberte und erschuf, die vor ihm niemand vollbracht hatte, das war … das war grosse Kunst und der schönste Sportmoment meines Lebens.»
Dass ich ihn verpasst habe wegen eines TV-Geräts und eines Computers, die kurz nacheinander ausstiegen: Davon werde ich vermutlich nichts sagen. «‹Jetz muass er denn öppa dr Yolo Flip uspacka …!›, hat der Kommentator gesagt – und dann … dann, Kinder, hat Iouri den Yolo Flip ausgepackt.»
Hier schreiben abwechselnd Bruno Ziauddin, Benno Maggi, Bänz Friedli und Benjamin Steffen.