Plan B


Warum die fussballerische Überlegenheit Westeuropas eishockeyresultatmässige Dimensionen erreicht. Eine sozioökonomische Betrachtung.

Heute mit: Simon Kuper

Die vier bevölkerungsreichsten Länder der Erde – China, Indien, die USA und Indonesien – werden nicht an die Fussball-Weltmeisterschaft fahren. Island hingegen schon, Einwohnerzahl: 330’000. Und womöglich auch die Schweiz. Die beiden Länder haben vermutlich auch die grössere Berechtigung, dabei zu sein, sie gehören zur besten Region des globalen Fussballs. Fast die ganze Welt ausserhalb Westeuropas rangiert mittlerweile unter «ferner liefen».

Wie kommt das?

Ich gestehe, dass ich erwartet hatte, der Rest der Welt würde aufschliessen. Als Stefan Szymanski und ich 2009 die erste Auflage unseres Buches «Soccernomics» herausbrachten (Deutsch: «Warum England immer verliert und andere kuriose Fussballphänomene»), sagten wir voraus, dass grosse Länder wie die USA, Japan und China westeuropäische Erfolgsmodelle kopieren und aufgrund ihrer Grösse die Westeuropäer daraufhin gar überflügeln würden. Das ist nicht passiert. Im Gegenteil, Westeuropa – mit seinen lediglich 400 Millionen Einwohnerinnen und Einwohnern, was nur fünf Prozent der Weltbevölkerung entspricht – hat drei Weltmeisterschaften nacheinander gewonnen, was davor keinem Kontinent gelungen war. Mehr noch: An diesen drei Turnieren belegten europäische Teams acht der neun Podestplätze. Die restlichen 95 Prozent der Welt verfügen einzig über eine Mannschaft, die mit Europa mehr oder weniger Schritt halten kann: Lionel Messis Argentinien. Nächsten Sommer werden die Europäer zudem die Endrunde auf dem Heimkontinent spielen können.

Westeuropa dominiert im Fussball aus demselben Grund, aus dem es im 16. und 17. Jahrhundert eine wissenschaftliche Revolution hervorbrachte und über Jahrhunderte die reichste Region der Welt war. Das Geheimnis ist, was der Historiker Norman Davies ein «benutzerfreundliches Klima» nennt. Westeuropa ist mild und regnerisch, daher fruchtbar, was Hunderten Millionen Menschen erlaubt, auf engem Raum zusammenzuleben. Die Geografie ermöglicht ihnen seit jeher Ideen auszutauschen, innerhalb des Kontinents und – seit die Europäer ihre Küsten dazu nutzten, die Welt zu besegeln – auch darüber hinaus.

Von der WM in Deutschland aus hätte man binnen zweieinhalb Flugstunden in jedes der rund zwanzig Länder fliegen können, in denen insgesamt etwa 300 Millionen Menschen leben. Dies ist das dichteste Netzwerk der Welt. Von Japan aus erreicht man eine einzige ausländische Hauptstadt in dieser Flugzeit: Seoul. Südafrika, der WM-Gastgeber von 2010, ist noch isolierter. Und die einzige ausländische Hauptstadt, in die man von Brasiliens grösster Stadt São Paulo aus in nur zwei Flugstunden gelangen kann, ist Asunción in Paraguay.

Zugegeben, zwei weitere Fussball-Pioniere, Uruguay und Argentinien, haben von der gegenseitigen Nähe und dem sich daraus ergebenden Austausch profitiert. Ihre Hauptstädte Montevideo und Buenos Aires liegen nur eine dreistündige Bootsfahrt über den Rio de la Plata voneinander entfernt, 1902 begegneten sich die beiden Länder im ersten internationalen Spiel ausserhalb der britischen Inseln. Nur europäische und südamerikanische Teams haben je eine Weltmeisterschaft gewonnen, und jedes bisherige Weltmeisterland grenzt an ein ebensolches (wenn man Frankreich und England, die durch einen 27 km breiten Kanal getrennt sind, als Nachbarländer rechnet). Wer gewinnen will, braucht eine kreative Nachbarschaft.

Und eben: Die westeuropäische «Nachbarschaft» ist einzigartig. Während über eines Jahrhunderts haben die Länder ihre taktischen Fussballkonzepte untereinander ausgetauscht. Einer der frühen Grenzgänger und Ideenboten war der ungarisch-jüdische Holocaust-Überlebende Béla Guttmann, vermutlich der beste Fussballcoach der 1950er- und 1960er-Jahre. «Im Verlauf meiner langen Karriere habe ich in zahlreichen Ländern gearbeitet», sagte Guttmann, der von den Niederlanden bis Uruguay fast überall gewirkt hat. «Sah ich etwas Gutes und Brauchbares im Fussball, habe ich es sogleich ‹gestohlen› und vorerst für mich behalten. Später habe ich mir dann einen Cocktail aus all den gestohlenen Delikatessen gemixt.»

Trainer wie Arrigo Sacchi, Arsène Wenger und Josep Guardiola führten später seine Arbeit fort. Die europäische Champions League, dieses engmaschige Netzwerk, ist ein wahr gewordener Binnenmarkt an Talenten und Ideen. Immerzu wird darüber debattiert, welches Fussballmodell nun dem anderen überlegen sei – Bundesliga vs. Premier League vs. Primera División vs. Serie A –, aber entscheidend ist doch vor allem die unglaubliche Intensität des Wettbewerbs innerhalb Europas, auf dem Feld wie in den Führungsetagen. Die grossen Vereine sind konstant gezwungen, nach Verbesserungen zu streben.

Teams, die in der Champions League spielen, können Talente von überall in der Welt abziehen. Und dennoch sind die Mehrheit ihrer Spieler Westeuropäer. Solange die besten Spieler und Coaches auf so engem Raum zu finden sind, so lang wird der weltbeste Fussball dort gespielt und weiterentwickelt werden – in Europa.

Während Jahrzehnten wurde ausserhalb Europas und Lateinamerikas kaum Fussball gespielt. Noch im Jahr 1990 stellten die Britischen Inseln mehr Teams an der WM, nämlich drei, als ganz Asien, das zwei Mannschaften entsandte. Doch in den 1990er-Jahren begann das Fernsehen den Fussball in neue Länder zu verbreiten, woraufhin diese aufzuholen versuchten.

Zuerst kamen sie rasch voran. Die fussballerischen Eigenschaften, die man sich am leichtesten aneignen kann, sind Fitness und defensive Organisation. Länder wie Japan lernten, technisch bessere Teams zu stoppen. Sie erreichten eine gewisse Könnerschaft – bis sie stagnierten. Denn der entscheidende Schritt zur Vortrefflichkeit ist auch der schwierigste, nämlich kreative, intelligente Spieler hervorzubringen, die zur Improvisation fähig sind. Schauen Sie sich die folgende Grafik an, zusammengestellt von Kollege Szymanski, die zeigt, wie die «neuen» Kontinente gegen die etablierten Teams aus Europa und Südamerika seit 1950 abgeschnitten haben. Ihre Siege nahmen anfänglich rasant zu und versiegten dann:

Die Siege asiatischer (AFC), afrikanischer (CAF) sowie nord- und zentralamerikanischer Teams (CONCACAF) gegen solche aus Europa (UEFA) und Lateinamerika (CONMEBOL) seit 1950 (Freundschafts- und Wettbewerbsspiele):

Die Grafik stellt Zeitabschnitte, in denen mehr Spiele ausgetragen wurden, entsprechend breiter dar. Wir stellen fest, dass all die aufstrebenden Kontinente sich zu Beginn stark verbesserten, dann aber stagnierten. Die Afrikaner erreichen ihren Zenit um 1990. Im Nachhinein muss man feststellen, dass Kameruns mitreissender Einzug ins WM-Viertelfinale 1990 das Ende von Afrikas Aufstieg markierte – und nicht dessen Anfang, wie man damals dachte. Nord- und Zentralamerika stagnierten zu Beginn des neuen Jahrtausends. Einzig die asiatischen Länder scheinen sich noch immer leicht verbessern zu können, wenn auch langsam.

Unvermindert kommen die besten Fussballer der Welt überwiegend aus Europa und Südamerika. Nicht einmal das oft als Talentschmiede gepriesene Afrika erweist sich derzeit als solche. Schauen Sie sich die besten sogenannt afrikanischen Spieler der letzten Jahre an: Pierre-Emerick Aubameyang, Riyad Mahrez and André Ayew kamen allesamt in Frankreich zur Welt, ihre Eltern sind afrikanischer Abstammung. Davor war auch Didier Drogba als Fünfjähriger nach Frankreich gekommen und hatte dort gelernt, Fussball zu spielen. Der grösste Teil der Spieler der beiden letzten Teams, die an WM-Endrunden für Furore sorgten – Senegal im Jahr 2002 und Algerien 2014 – war in Frankreich zur Welt gekommen. Fakt ist: Wer die Hoffnung hegen möchte, dereinst das Know-how des Starfussballers zu erlernen, sollte möglichst schon vor dem Beginn der Primarschule in Europa oder Lateinamerika leben.

Westeuropa wird in Russland den vierten Weltmeistertitel in Serie feiern. Wetten?

Zu unserer grossen Freude konnten wir the one and only Simon Kuper als Autor für No. 1 gewinnen. Kuper (48) ist Kolumnist der «Financial Times» und einer der weltweit angesehensten Fussball-Kommentatoren. Sein Buch «Football against the enemy. Oder: Wie ich lernte, Deutschland zu lieben» (Göttingen 2009) ist ein internationaler Bestseller. (Übersetzung: No. 1)