Wahrheit No. 1: Materialschlacht

Ursina Haller – Das Leben als Spitzensportlerin ist beschwerlich. Das wurde mir kürzlich wieder klar. Ich stand an einem Zürcher Flohmarkt. Es war noch Sommer, ein schrecklich heisser Tag, und ich versuchte, ein Problem loszuwerden, das mich auch drei Jahre nach dem Rücktritt vom Profisport noch belastet. Es stand Kante an Kante auf meinem Verkaufsplatz, hing in allen Farben an Kleiderständern und lag in Wühlkisten zu meinen Füssen: Auch nach der Frühpensionierung besitze ich immer noch so viele Snowboards, Winterkleider oder Handschuhe, dass ich eine ganze Snowboardschule damit ausrüsten könnte.

Während meiner Sportlerlaufbahn klingelte der Pöstler beinahe wöchentlich an der Tür. Er lieferte das Material der Sponsoren aus: 60 Kleidungsstücke im Jahr, ein Dutzend Snowboards, ebensoviele Schuhe, haufenweise Brillen, Handschuhe, Funktionswäsche, Rucksäcke, Taschen. Verpackt in riesige Kartonschachteln rollte die Ware in mein Haus. Ich freute mich jedes Mal darüber. Braune Pappe wird rasch zu funkelndem Geschenkpapier, wenn man nicht weiss, welche zauberhaften Dinge sie umhüllt.

Einmal geöffnet, verlor die Lieferung aber häufig an Glanz. Nicht selten hatte es mit dem Inhalt zu tun: Verpackungsdienste halten es offenbar für gerechtfertigt, einem einzigen Stirnband eine Kartonschachtel in der Grösse eines Koffers zu widmen. Das Stirnband wanderte in meinen Kleiderschrank, die Schachtel blieb im Wohnzimmer stehen. Meistens dauerte es nicht lange, bis weitere dazukamen. Nun gibt es bekanntlich schönere Einrichtungsgegenstände als ein Stapel Pappkarton. Die Fahrt zum Recyclinghof wurde zum festen Bestandteil meines Sportlerinnenalltags.

Mit der Zeit verschärfte sich die Lage an verschiedenen Fronten. Mein Kleiderschrank wurde immer voller, ebenso der Estrich und der Keller. Ich musste Vakuumsäcke kaufen, um Platz zu schaffen. Und mit dem Materialberg wuchs mein schlechtes Gewissen. Schliesslich war mein Problem an Absurdität kaum zu übertreffen. Wer kann schon darüber klagen, zu viel zu besitzen?

Das Materialproblem ist unter Sportlern kein Geheimnis. Es gibt Athleten, die jemanden dafür bezahlen, damit er ihre Sachen auf Ebay verkauft. Andere beliefern ihre Onkel, Cousinen und Freunde damit.

Ich machte, was man in der Verzweiflung tut: Ich bat mein Umfeld um Hilfe. Meine Mutter organisierte Transporte nach Nepal, damit die Winterkleider dort eine sinnvolle Verwendung finden. Mein Vater opferte sich gleich selber auf: Noch heute ist er beim Joggen angezogen, als wäre er selbst Olympiateilnehmer. Und einige meiner Freunde sehen aus wie ein Double von mir, wenn sie über die Pisten flitzen.

Doch die ganze Last konnten sie mir bei aller Liebe nicht abnehmen. Auf Empfehlung einer Sportkollegin versuchte ich es deshalb mit dem Flohmarkt. Leider entpuppten sich schwitzende Trödler nicht als ideale Zielgruppe für Snowboardmaterial. Ich habe immer noch zu viele Winterjacken, Bretter oder Schuhe. Wer will?

Nächste Woche schreibt Ursina über Wahrheit No. 2: Futterneid.