Wahrheit No. 4: Verkehrssünden

Ursina Haller – Jahrelang hatte ich ich mich vor diesem Moment gefürchtet. Dann war er plötzlich da: Ich stand auf dem Parkplatz eines Autohändlers und strich meinem Liebling ein letztes Mal über die Haube. Ich verinnerlichte das Gefühl des warmen Stahls unter den Fingern und atmete tief ein. Dann lief ich los in Richtung Bahnhof und schaute nicht zurück. Denn ich wusste: Das, was da funkelnd in der Frühlingssonne stand, wird mir mit grosser Wahrscheinlichkeit nie wieder gehören.

Am Bahnhof schnürte es mir die Kehle zu. Ich musste den Fahrplan studieren, um nach Hause zu kommen. Eine Fahrkarte kaufen. Am Perron warten, mit all den anderen Reisenden. Ein halbes Jahrzehnt lang war mir das erspart geblieben. Öffentliche Verkehrsmittel – als Sportlerin brauchte ich das nicht.

Wenn ich zum Training oder an Wettkämpfe fuhr, sass ich in einem Cockpit, gepolstert mit feinstem Leder. Eine Stimme in bester Tonqualität wies mir den Weg, auch beim Einparken half sie. Wenn ich wollte, war ich schneller als alle anderen auf der Strasse, ein leichter Stoss am Gaspedal reichte. Und wenn ich im Stau stand, klopften manchmal Unbekannte ans Fenster – wohl in der Hoffnung, im mit Schweizerkreuzen zugepflasterten Auto sitze Lara Gut. So oder so – auch mir wünschte man viel Glück für die nächsten Wettkämpfe.

Das alles gefiel mir. So gut, dass ich selten ohne Auto unterwegs war. Ob zur Physiotherapie, zum Brunch mit Freund_innen oder zur Uniprüfung – ich fuhr bei jeder Gelegenheit im Wagen vor. Nicht ganz ohne Stolz; den Komfort musste ich mir schliesslich verdienen, Saison für Saison. Nur Wintersportler_innen, die in ihrer Disziplin zur Weltspitze gehören, dürfen sich nach der Saison ein Auto vom Verbandssponsor aussuchen und es ein Jahr lang fahren. Wer keine Top-Resultate liefert, erhält keine neuen Schlüssel.

Dasselbe gilt, wenn Sportler_innen zurücktreten. Wenige Wochen nach meinem Abschied vom Wettkampfsport erhielt ich eine Mail: Man müsse das Auto zurückhaben. Ich hatte rund sechs Wochen Zeit, um mich damit abzufinden, dass mein 100’000-Franken-Auto von einem Halbtax abgelöst wird.

Als ich dann zum ersten Mal im Zug sass, war alles halb so schlimm. Ich merkte, wie gut es mir und der Umwelt tut, wenn ich mit meinem Stolz nicht die Luft verpeste. Ich fand heraus, wie toll es ist, im Zug Unbekannte zu beobachten. Und vor allem erfüllte es mich mit einer angenehmen Ruhe, dass das Billett in meinem Portemonnaie mir gehört – für immer.