Das Monster und ich

Mein Jahr in der Königsklasse des Motorrad-Rennsports.

Von Tom Lüthi (Text) und Chris Däppen (Foto)

 

Der Anruf kam, als ich im Auto sass. Hinter mir der Sachsenring, auf dem ich gerade gestürzt war und im Kampf um den WM-Titel wichtige Punkte liegen gelassen hatte, vor mir die Sommerpause. Zusammen mit Daniel, meinem Manager und Freund, wollte ich nach Ägypten zum Kitesurfen, ein paar Tage ausspannen, bevor wir den Rest der Saison in Angriff nahmen.

Der Mann am Telefon fragte mich: «Kannst du dir vorstellen, MotoGP zu fahren?»

Sein Name: Michael Bartholemy.

Sein Team: Marc VDS Racing Team.

Marc VDS steht für Marc van der Straten.

Bartholemy war der Chef, van der Straten ist der Besitzer des Teams. Warum das wichtig ist, erzähle ich gleich.

Von einem solchen Anruf hatte ich lange geträumt. Eigentlich seit ich fünfzehn Jahre zuvor, im Alter von nicht einmal sechzehn Jahren, in der Moto3-Klasse debütiert hatte, die damals noch 125-ccm-Klasse hiess.

Der Sport, für Aussenstehende muss man das immer wieder erklären, ist so aufgeteilt: Moto3 sind Töffs mit 250-Kubikzentimeter-Motoren, Moto2 solche mit 600-Kubikzentimeter-Motoren. MotoGP ist die Königsklasse: 1000-Kubikzentimeter-Motoren.

Ich in der Königsklasse?

Daniel, mein Manager, war skeptisch, ist auch sein Job. Ich sehe den Sport, er sieht das Business, ich die Chancen, er die Risiken. Er sagte: «Du wirst keinen Werkstöff haben, wirst hinterherfahren.» Ich sagte: «Ich will es probieren.» Wir verbrachten die Ferien mit Diskutieren, am Ende war klar: Wir machen es.

Das Marc VDS Racing Team war in der Moto­2 seit Jahren mein grösster Konkurrent, mit Franco Morbidelli rang ich gerade um den WM-Titel. Nun wollten sie mit mir in die Moto­GP. Für mich wars eine Ehre, für sie ein Coup. Sie holten sich den Fahrer an Bord, der für sie das rote Tuch war. Das war im Juli 2017.

Und das ist erst der Anfang der Geschichte. Wenn sie bloss hier zu Ende wäre…

Ich habe die Leute oft sagen hören: Der Lüthi – das ist einer der talentiertesten Fahrer, der gehört in die MotoGP. Das Problem: Talent allein reicht nicht. Talent allein reicht nie.

Es gibt zwei Gründe, warum ich nicht früher das Angebot bekommen habe, in die Moto­GP aufzusteigen.

Erstens: Ich habe mich in der Moto2 nie wirklich durchgesetzt. Ich war gut, das schon, fuhr konstant vorne mit, da bin ich auch stolz drauf. Aber Ende Saison stand ich nie zuoberst, ich konnte nie sagen: An mir kommt keiner vorbei.

Zweitens: Ich bin Schweizer. Die Hersteller engagieren sich im Motorsport, weil sie Töffs verkaufen wollen. Und der Markt, für den ich stehe, ist zu klein, als dass eines der grossen Werke mich haben müsste. Ein Spanier, ein Deutscher, ein Japaner – die haben eine andere Ausgangslage.

Es ist so: Entweder du bremst zu früh oder du bremst zu spät. Beides führt zu Stürzen, beides ist mir mehrere Male passiert.

Jetzt war die Chance da. Ich wusste: Man wird mir ein Vierteljahr Zeit geben, um in der Moto­GP Fuss zu fassen, vom ersten Rennen im März bis in den Frühsommer. Würde ich länger brauchen, um erstmals in die Punkte, also in die Top 15 zu fahren, würde das Team die Geduld verlieren und mir keinen neuen Vertrag anbieten.

Ein Vierteljahr. Ich war mir sicher, dass ich es schaffen würde.

Ich sehe den Sport, sehe die Chancen.

Dann stürzte ich. Das war Ende Oktober, im Qualifying zum Grand Prix von Malaysia, dem zweitletzten Rennen der Saison 2017. Ich lag mit gebrochenem Fuss im Spital, Morbidelli war kampflos Moto2-Weltmeister.

Nächstes Jahr würden wir beide uns mit den Grossen messen. Nicht mehr als Gegner, sondern als Kollegen.

Zwei Wochen später, Mitte November, das letzte Rennen der Moto2-Saison: der Grand Prix in Valencia. Auf Krücken humpelte ich durchs Paddock und aufs WM-Podest, Platz 2, einmal mehr, es war das schlimmste Rennwochenende meiner Karriere.

Zwei Tage später, ebenfalls in Valencia, begannen die Testfahrten für die Saison 2018 in der MotoGP. Natürlich verpasste ich sie, ich konnte zu Hause ja nicht mal einen Teller aus der Küche ins Esszimmer tragen.

Die Testtage sind wichtig: Vier Tage à sechzig Runden, um den neuen Töff kennenzulernen. Die MotoGP-Töffs sind Biester im Vergleich zu jenen der Moto2, es sind Monster, ich kann es nicht anders sagen, es ist fast nicht zu beschreiben.

In der Moto2 rast du mit 280 Kilometer pro Stunde auf eine Kurve. In der MotoGP mit 360.

Krassere Töffs gibts nicht. Sie haben 260 PS, das ist fast doppelt so viel wie jene der Moto2.

Du hast in der MotoGP so viele PS unter dir, dass du sie mit blossen Händen nicht kontrollieren kannst. Deshalb ist alles elektronisch geregelt, du hast extrem viele elektronische Fahrhilfen, wheely control, Traktionskontrolle. Die Herausforderung ist, die Elektronik so abzustimmen, dass sie dir als Fangnetz dient, als Sicherheit. Du fährst ganz knapp darunter, knapp am Limit, und im Zweifelsfall übernimmt sie, das ist das Ideal.

Aber das erfordert Gefühl. Wie sollte ich mich mit Krücken an das Monster gewöhnen?

Ich war in jener Zeit nicht untätig, im Gegenteil, in sechs Wochen war der Fuss wieder gesund, Rekordzeit. Ich arbeitete wie ein Verrückter, mit dem Fitnesstrainer, dem Physio – aber nicht mit den Mechanikern. Als WM-Fahrer darfst du nur bei offiziellen Terminen testen, die Regel hat man eingeführt, um Fairness zu schaffen zwischen Teams mit mehr und solchen mit weniger finanziellen Möglichkeiten.

Die nächsten Tests fanden Ende Januar statt, auf dem Sepang International Circuit in Malaysia, dem Ort meines Unfalls. Fünfunddreissig Grad, fast hundert Prozent Luftfeuchtigkeit: Da macht man nicht mal schnell achtzig Runden an einem Tag, da ist man irgendwann platt, und dann hat es keinen Sinn mehr. Es gibt so viele Dinge, die abzustimmen sind: Welchen Reifen nehme ich, wie fahre ich mit welchem Reifen? Man muss alles mal durchspielen, muss alles mal spüren, zwei, drei verschiedene Konfigurationen – schon ist ein Tag vorbei.

Ich war glücklich, dass es endlich losging, aber ich wusste auch: Der Umstieg von der Moto2- in die MotoGP-Klasse braucht Zeit. Und die hatte ich nicht. Ich war von Anfang an im Rückstand.

Vielleicht muss ich hier etwas betonen: Weder damals noch heute, ein Jahr später, bin ich der Ansicht, dass ich nur wegen des Fussbruchs gescheitert bin in der MotoGP. Würde ich das denken, wäre ich ein schlechter Verlierer. Es waren viele Faktoren, wir alle machten Fehler, meine Crew bei der Abstimmung des Töffs, ich auf der Strecke.

Aber ich bin kein Jammeri.

Das erste Rennen Mitte März in Katar lief gar nicht so schlecht, ich fand einen gewissen Speed, hatte die Taktik und auch den Spritverbrauch im Griff.

Doch dann der nächste Rückschlag. Ich verlor das Vertrauen ins Vorderrad. Ehrlich gesagt: keine Ahnung, warum. Es gibt so viele Details, die man als Töfffahrer berücksichtigen muss, und so viele, die man nicht versteht. Plötzlich ist es einfach so.

Mit dem Vorderrad ist es so: Entweder du bremst zu früh und legst dich mit dem Oberkörper zu wenig nach vorne, oder du bremst zu spät und legst dich mit dem Oberkörper zu stark nach vorne. Beides führt zu Stürzen, beides passierte mir mehrere Male.

Und wenn du stürzst, ist das Vertrauen weg.

Der Speed kommt dir abhanden, du bist nicht mehr locker – und schon ist es eine mentale Geschichte, aus der du fast nicht mehr rauskommst.

Wenn du mit 360 auf die Kurve rast und nicht sicher bist, ob dein Vorderrad hält – das ist ein Scheissgefühl.

Hinzu kam, dass man bei diesem Töff – ich fuhr eine Honda aus dem Vorjahr, weil wir ja kein Werksteam waren und uns keiner dieser Hightech-Prototypen zur Verfügung stand – mehr mit der Hinterradbremse arbeiten musste als bei anderen Maschinen. Das bedeutete: Ich musste eine Fahrposition finden, bei der ich mit dem Oberkörper genug Druck auf das Vorderrad geben und mit dem Fuss gleichzeitig die Hinterradbremse erreichen konnte. Eine komplexe Aufgabe, erst recht in der Kurve, wenn die Hinterradbremse wegen der Seitenlage beinahe den Asphalt touchiert.

Auch hier gilt: So was braucht Zeit. Und die hatte ich nicht.

Und dann, Mitte Mai, geschah etwas, wogegen selbst der beste Chefmechaniker und der beste Fahrer der Welt nichts hätten tun können: Unser Team fiel auseinander. Vom einen Tag auf den anderen. Das war am Grand Prix in Le Mans. Am Freitagabend sassen noch fünfzig Leute beim Abendessen, das ganze Marc VDS Team, am Samstagmorgen beim Frühstück fehlten plötzlich sechs oder acht. Die Presseleute, das Management – sie kamen einfach nicht mehr zur Arbeit. Innerhalb des Teams hatten wir schon früher etwas von dem Zwist zwischen Bartholemy und van der Straten mitbekommen, jetzt drang er an die Öffentlichkeit, mit einem Knall. An einem Rennwochenende!

Nichts funktionierte mehr.

Ein Riesengstürm.

Es gab Momente, da konnte ich nur noch lachen, so absurd war es. Eigentlich hätte ich weinen wollen.

Bartholemy und van der Straten stritten sich über alles Mögliche. Worüber genau? Ist im Nachhinein egal. Irgendwann ging es auch um die Frage, wem die Töffs gehören, was dazu führte, dass wir Tests absagen mussten, weil die Töffs zurückgehalten wurden.

Das Team, von dem ich mich hatte anwerben lassen, dieses in der Moto2 über Jahre höchst vorbildlich, höchst professionell funktionierende Team – es zerbarst. Der Konflikt endete damit, dass Bartholemy ging, Mitte Juni kehrte tatsächlich so etwas wie Ruhe ein. Aber die Stimmung war nicht mehr wie vorher. Es gibt so vieles, das passen muss, und etwas vom Wichtigsten ist der Spirit.

Ich bin froh, dass ich sagen kann: Das ist Vergangenheit. Aber es schmerzt. Die Implosion des Teams bedeutete auch, dass ich keinen neuen Vertrag bekam. Dass ich den Traum von mir als MotoGP-Fahrer beerdigen musste.

Ich bin Sportler, quäle mich jeden Tag: Der einzige Grund, warum ich das tue, ist die Aussicht, zuoberst auf dem Podest zu stehen. Klingt wie eine Binsenwahrheit, ist aber so: Der Moment des Sieges entschädigt für alles. Ich weiss noch, wie es war, als ich Weltmeister wurde: Herbst 2005, 125-ccm-Klasse. Ich war neunzehn Jahre alt. Manchmal habe ich nicht mal geschnallt, warum ich gerade ein Rennen gewonnen hatte. Alles war leicht, alles lief einfach.

Und dann wählte mich das Schweizer Fernsehpublikum auch noch zum «Sportler des Jahres». Vor Roger Federer. Das war mir so peinlich, ist es mir bis heute. Da gewinnt Federer Turnier um Turnier – und muss sich von einem dahergelaufenen Lüthi übertrumpfen lassen. Ich meine: Federer ist ein Vorbild für uns alle, er oben, wir unten.

Heute weiss ich, was es bedeutet, sich so lange an der Spitze zu halten. Je älter du wirst, desto mehr Arbeit steckt dahinter.

Ich kehre 2019 in die Moto2 zurück, aber ich nehme es nicht als Rückschritt wahr. Ich werde für Dynavolt Intact fahren, das sind motivierte Jungs. Ich glaube sogar, dass ich von der Moto­GP-Erfahrung profitieren werde, in der Moto2 werden neue Einheitsmotoren eingeführt: mehr Kubik, mehr Drehmomente, mehr Elektronik. Ich fahre jetzt wieder um den Weltmeistertitel und nicht mehr um ein paar Punkte.

Ich freue mich, so sehe ich das.

Es ist der einzige Weg, den ich habe.